1 Sekunde Brustwarze
Am höchsten wogte das Gelächter durch den Mediziner Kongress in Frankfurt, als es um eine Brustwarze ging. Nicht irgendeine. Die von Gwyneth Paltrow. Die bekanntlich eine schöne hat. Renaissance-Typ.
Eigentlich jedoch ging es auf diesem Mediziner-Kongress um anderes Wichtige als Brustwarzen. Denn die Teilnehmer waren keine Kosmetik-Ärzte, sondern ,,Flugmediziner". Das sind Ärztinnen, Ärzte und Psychologen, die für die Lufthansa Patienten im In- und Ausland da sind. Wenn nötig. Coole Themen.
Weniger cool waren Spezialthemen wie meines (Musik während des Fluges zur Angstreduzierung von Flugangstpatienten"). Heiß war das meines Nachredners, Herrn Manstein: ,,Unterhaltungsprogramme an Bord und ihre psychologische Wirkung". Denn bestimmte Musik und andere Unterhaltung geht manchmal mehr unter die Haut als eine Spritze oder Essen und Trinken.
Auf dem Kongress jedoch ging die Brustwarze von Gwyneth Paltrow unter die Haut und mutierte zum Gelächtersturm durch den Saal. Denn: Der Redner nach mir informierte, was in den Filmen, die während des Fluges gezeigt werden, gezeigt werden darf. Und was nicht gezeigt werden darf. Tabu sind an Bord abstürzende Flugzeuge. Oder in geschlossenen Räumen explodierende Bomben. Seit dem Sturz des World Trade Center („9/11") auch einstürzende Hochhäuser.
Die Filmverleihfirmen schneiden die Filme entsprechend der Vorgabe der Fluggesellschaften, damit der Flug gleichzeitig kurzweilig, aber nicht aufregend ist. „Geiz ist geil" gilt auch für Erotik während des Fluges. Nicht wegen der Fluggefährdung. Sondern wegen der Kinder, von denen zigtausend allein in der Lufthansa völlig allein fliegen.
Tabu war entsprechend auch die normale Fassung des Films mit Gwyneth Paltrow's Ein-Sekunden-Brustwarze. Also lief „Shakespeare in Love" in der Flugversion ohne Brustwarze. Für die Bodenversion in den amerikanischen Kinos wurde die Brustwarze erlaubt. Aber erst ab 18. Wegen der bleibenden Schäden bei Kindern und Jugendlichen. Hier bei uns lief der Film - raten Sie mal? (Ab 6)...
Nun ließe sich trefflich weiter diskutieren. Über die prüde Doppelmoral der Amerikaner, die Sex and Crime inflationieren, aber die hübsche Brust von Gwyneth Paltrow vorenthalten. Oder über uns ganz und gar unmoralische Deutsche, die pure Nacktheit so gewohnt sind, dass sie ab 6 empfohlen wird.
Ich diskutiere aber nicht. Ich trauere. Denn ich habe „Shakespeare in love" im (deutschen) Kino zwar gesehen, aber Gwyneth‘s Brustwarze nicht. Nicht mal die 1 Sekunde. Ging auch nicht. Denn die menschliche Wahrnehmung braucht mehr als eine Sekunde, um Bleibendes auf der Netzhaut abzubilden.
Deshalb wurde so gelacht in Frankfurt. Dabei ist es eigentlich zum Heulen: Die Prüderie der Amis und die Ignoranz von uns Deutschen. Nacktheit gegenüber. Denn in der Mitte liegt die Weisheit. Zwischen einer Sekunde und langer Weile und auch zwischen Nacktheit und Feigenblättern.
19.04.2004